Mittwoch, 28. März 2007
Darwin ausser Rand und Band...
Als die HMS Beagle im Dezember 1831 in Devonport in See stach, bereit für eine fünfjährige Expedition zu den Kapverdischen Inseln, den Falklandinseln, der südamerikanischen Küste, den Galapagos-Inseln und Australien, war Charles Robert Darwin, vielleicht ohne es zu wissen, kurz davor, den Grundstein der wichtigsten Evolutionstheorien aller Zeiten zu legen. Seine Erkenntnisse sind noch heute, über 150 Jahre später, das Grundmanifest der Evolutionsforschung und aus ihnen lassen sich alle modernen Evolutionstheorien ableiten. Zusätzlich sind bis heute die meisten seiner Aussagen unwiederlegbar. Die Betonung liegt auf "bis heute".
Auch der moderne Mensch war die längste Zeit der natürlichen Selektion unterworfen und seit der Geschichtsschreibung wird der durchschnittliche Mensch größer, stärker und unter Umständen sogar intelligenter. Mit dem Fortschritt der Medizin im letzten Jahrhundert wurde aber auch deutlich, dass der durchschnittliche Mensch mit Generation zu Generation nicht unbedingt gesünder wird. Ja, Titten auf den Tisch – was ist los mit uns? Wir sind eine Spezies von kurzsichtigen, kranken, allergiegeplagten und oft sogar früh sterbenden Schwerhörigen. Was ist passiert? Hatte Darwin doch Unrecht? Ist der moderne Mensch nicht nur Homo sapiens sapiens, sondern gleichzeitig Homo sapiens sapiens disabilitus? Und wie konnte die Evolution des Menschen zu einer Fülle von Krankheiten führen, die jede Auswahl an Behandlungsmethoden bei Weitem übertrifft?
Erinnern wir uns an uns selbst, vor allem diejenigen von uns, bei denen im frühen Kindesalter Kurzsichtigkeit diagnostiziert und eine Verschlimmerung im Alter prognostiziert wurde. Nehmen wir einfach mal ungefähr –6 Dioptrien an. In einer natürlich funktionierenden Umwelt hätte der Arzt die Eltern in sein Büro geschickt, sich auf seinen Stuhl gesetzt und mit besorgter Miene und zerkrauster Stirn sein Mitgefühl ausgesprochen. „Es tut mir leid, Herr und Frau Mustermann, ihr Sohn ist leider kurzsichtig. Wenn er nicht vor seinem zehnten Lebensjahr von einem hungrigen Panther gerissen wird, ist das nichts anderes als ein Wunder.“
Stattdessen jedoch, eher der Junge weiß wie ihm geschieht, kriegt er eine starke Brille auf die Nase und ist ab sofort wieder gesellschaftsfähig. Nun kann man wohl sagen dass Kurzsichtigkeit alles andere als unser größtes Problem darstellt, aber die Quelle der Beispiele ist unerschöpflich – Allergien, Haarausfall, Rot-Grün-Blindheit, Laktoseintoleranz, Sichelzellenanämie, Herzfehler, Mukoviszidose, Trisomie, Blindheit, Taubheit, Alzheimer, Creutzfeld-Jakob, usw., alles Erbkrankheiten oder genetische Disposition, die sich vor einiger Zeit unter die sonst so gesunden Menschen geschlichen haben und sich hartnäckig unter ihnen halten. Es ist ja nicht so als könne man jede Krankheit besiegen, wie den Pocken-Virus, den es als Erreger nur noch als Bewohner eines Röhrchens im Kühlschrank der schönsten Laboratorien der Welt gibt.
Aber sterben Kinder, bei denen schon kurz nach ihrer Geburt eine ernstzunehmende Erbkrankheit diagnostiziert wird? Mittlerweile ermöglicht die moderne Medizin diesen Kindern in sehr vielen Fällen, ein völlig normales Leben zu führen. Daumen hoch für de Medizin. Leider ermöglicht es die Medizin jedoch nicht, diese Erbkrankheiten zu vernichten und je nach Vererbung der Gene gibt es eine bestimmte (und oft hohe) Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Kinder dieser Kinder mit genau diesen Erbkrankheiten zur Welt kommen. Daumen runter. Da auch Kinder mit anderen Erbkrankheiten ein völlig normales Leben führen können (Daumen hoch), kommt es irgendwann dazu, dass sich Menschen mit verschiedenen Erbkrankheiten paaren und – Bingo – da kommt schon das erste Kind mit zwei seriösen Erbkrankheiten zur Welt.(Daumen runter). Unsere moderne Medizin ermöglicht es also, Charles Darwin den Rücken zuzukehren und ein Leben (relativ) frei von natürlicher Selektion führen zu können. Und unser Sozialsystem ermöglicht es genau diesen Menschen, ein völlig normales Leben zu führen. Damit mich niemand falsch versteht – ich halte das, wie alle anderen auch, für völlig richtig – ich möchte nicht dass jemand einmal zu hören bekommt, „Es tut mir leid Herr Beispielsmüller, aus Gründen der natürlichen Selektion können wir sie leider nicht am Leben erhalten. Sie müssen sterben. Für das Wohl der Menschheit. Es tut uns Leid. Bitte räumen sie ihre Wohnung bis zum 31. Und bitte keinen Geschlechtsverkehr bevor sie sterben. Gehen sie nicht über Los.“ Ich finde es auch wirklich hervorragend, dass unsere Gesellschaft und unser medizinischer Fortschritt möglich machen, dass auch die weniger Gesunden zu ihrem Recht kommen, ein völlig normales Leben zu führen. Aber es bleibt festzustellen, wenn die Erbkrankheiten erst einmal in Menschen Fuß gefasst haben, dann sorgen wir selber unaufhörlich dafür, dass sie auch unter uns bleiben. Da auch ich selber, was Erbkrankheiten angeht, nicht ganz unbefleckt bin, wird mir hoffentlich jeder glauben dass diese Feststellung keinesfalls negativ bewertet wird, ich selber bin dankbar für das Leben, das ich führen darf.
Aber wann immer ich mich in eine Diskussion verwickle, in der es sich um genetische Veränderung am Menschen dreht, muss ich irgendwann auf diesen Punkt zu sprechen kommen und feststellen, dass der einzige Weg, diese Erbkrankheiten loszuwerden ist, der Genetik zu gestatten, die Veränderungen vorzunehmen und bestimmte Gene zu "überwachen". Meistens schlägt mir in einer solchen Debatte über Genetik der folgende Satz entgegen: „Genetik, das ist Gott spielen, dann kann man irgendwann im Supermarkt das perfekte Kind kaufen“. Aber mal im Ernst – an dem Tag, an dem wir Darwin lachend den Mittelfinger zeigten und sagten dass von nun an nur noch diejenigen Menschen sterben, bei denen wir es partout nicht verhindern können, fing das Gott spielen nicht da schon an? Zu entscheiden wer stirbt und wer lebt, das ist meiner Definition nach Gott spielen und ich finde es von unserem Standpunkt aus auch nicht falsch, den sterbenskranken zum Leben zu verhelfen. Die einzige logische Konsequenz jedoch, die wir aus unserer fehlenden Selektion ziehen können, ist entweder Genetische Veränderung an unserem Erbgut zuzulassen um zuzusehen, dass wir eine normal gesunde Spezies bleiben, oder aber zu akzeptieren, dass in einigen Jahren nun mal jedes zweite Kind mit chronischem Nasenjucken geboren wird. Oder Heuschnupfen. Oder vielleicht auch mal mit einem Herzfehler. Vielleicht sogar mit allem zusammen. Oder aber einer der Leute, die lauthals gegen Gentherapie beim Menschen demonstrieren und protestieren, geht zu allen Menschen der Welt, die mit Erbkrankheiten zur Welt gekommen sind und sagt ihnen. „Es tut mir leid. Sie sind krank, sie dürfen keine Kinder bekommen. Sie machen uns kaputt. Danke für ihr Verständnis.“ Und wenn der nette Herr dem zustimmt und sich bereit erklärt, keine Kinder zu zeugen, sind wir zwar in gewisser Hinsicht schon wieder beim Gott spielen, aber vielleicht funktioniert es ja. Ich bin gespannt wann sie bei mir vor der Tür stehen. Wie das Gespräch abläuft weiß ich allerdings schon. Ich erkläre ich dem/derjenigen einfach, dass es mir persönlich viel besser passen würde, wenn ich doch ein Kind bekäme. Danke für ihr Verständnis!

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